Reality Revolution
In den letzten Jahren haben nicht nur führende IT-Unternehmen wie Samsung, Facebook, Amazon oder Microsoft ihre Budgets und Entwicklungsaktivitäten zugunsten neuer Realitäten verschoben. Auch zahlreiche Start-Ups bringen fast wöchentlich neue Innovationen auf den Markt.
Typische Schlagwörter in diesem Zusammenhang sind Augmented Reality, Assisted Reality, Mixed Reality und Virtual Reality. Oft werden diese Begriffe fälschlicherweise als Synonym verwendet. Oder sie werden dem Bereich der Computerspiele zugeordnet und als reine Spaßmedien verstanden.
Ihre tatsächliche Relevanz wird damit völlig unterschätzt. Denn sie haben besonders hohes Disruptionspotenzial. Das bedeutet, dass bestehende Geschäftsmodelle oder ein gesamter Markt durch diese stark wachsende Innovation abgelöst, umgekrempelt oder möglicherweise sogar “zerschlagen” werden.
AR, VR, MR & Co – eine Begriffsklärung
Extended Realities (XR)
Extended Realities (XR) gilt als Sammelbegriff für alle neu entwickelten immersiven Technologien. „Immersiv“ beschreibt das Eintauchen in andere Welten. In diesem Zusammenhang bezeichnet es den Zustand, in dem Nutzerinnen und Nutzer das Bewusstsein für virtuelle Elemente in der realen Welt verlieren (AR) oder in eine komplett virtuelle Welt eintauchen und sich mit allen Sinnen auf das Erlebnis einlassen (VR).
Ein einheitlicher Begriff hat sich noch nicht durchgesetzt und daher ist das „X“ schlicht und einfach ein Platzhalter.
Augmented Reality (AR)
Digitale Informationen überlagern die physische Welt in Echtzeit. Das heißt, Nutzerinnen und Nutzer können ihre Umgebung immer noch wahrnehmen, diese wird allerdings um virtuelle Elemente und Informationen ergänzt.
Die Ausprägungsformen von AR sind sehr unterschiedlich. Man unterscheidet Assisted Reality und Mixed Reality (MR).
Assisted Reality
Bei dieser minimalistischen Form von AR bekommen Nutzerinnen und Nutzer beispielsweise nur Textinformationen eingeblendet, die ganz klar „unecht“ sind. Ein typisches Beispiel zum Anzeigen von Assisted Reality ist die Google Glass.
Mixed Reality (MR)
Bei der Mixed Reality werden im Gegensatz zu Assisted Reality die Objekte so realistisch dargestellt, dass diese kaum noch von echten Elementen unterscheidbar sind. Die virtuellen Objekte scheinen sich „wie echt“ zu verhalten und passen sich ihrer Umgebung an. Besonders gut umgesetzt wird MR heutzutage schon über die Microsoft HoloLens. Welche Anwendungsbereiche sich damit beispielsweise für die Verwaltung ergeben, sieht man am Beispiel des 3D-Stadtmodells.
Virtual Reality (VR)
Dieses immersive Medium erzeugt eine dreidimensionale, virtuelle, imaginäre und interaktive Medienumgebung, die ähnlich wie die echte Umgebung wahrgenommen und mental verarbeitet wird.
Vereinfacht ausgedrückt haben die Nutzerinnen und Nutzer in der Regel ein Art Brille auf, die eine fiktive Welt möglichst realistisch darstellt. Im Gegensatz zu AR sind Nutzerinnen und Nutzer bei VR also weitgehend komplett von der Realität abgeschlossen. Daher lösen VR Achterbahnfahrten oder ähnlich schnelle Bewegungen in der virtuellen Welt bei einigen Menschen auch Übelkeit aus.
Wie nutzt man die neuen Realitäten?
Grundsätzlich kann AR auf den meisten handelsüblichen Smartphones und Tablets funktionieren. Allerdings haben diese in der Regel nur begrenzte Möglichkeiten, die Umgebung zu „verstehen“. Denn ihnen steht nur die Kamera und GPS zur Verfügung. Technologien wie sogenannte AR Brillen oder Smart Glasses wurden speziell für AR entwickelt und haben noch weitere Sensoren. Beispielsweise können Tiefensensoren die Umgebung noch viel genauer abscannen und virtuelle Elemente somit exakter einblenden.
Um VR verwenden zu können, stehen ebenfalls verschiedene technische Möglichkeiten zur Verfügung. Sogenannte Cardboards dienen beispielsweise als simple und kostengünstige VR Lösung. Cardboards sind Halterungen für Smartphones, wobei dessen Rechenleistung und Display zur Anzeige genutzt wird. Spezielle VR Headsets bieten meist eine bessere Auflösung und mehr Interaktionsmöglichkeiten. Mit einer Oculus Rift können Nutzerinnen und Nutzer über Controller sogar Inhalte interaktiv bewegen.
Zudem können zusätzliche Geräte das virtuelle Erleben ergänzen. Zum Beispiel lassen Laufbänder die Nutzerinnen und Nutzer durch dreidimensionale Welten laufen. Die Möglichkeiten hierfür sind nahezu unbegrenzt.
Welche Einsatzmöglichkeiten gibt es für Unternehmen?
Auch für Unternehmen ermöglicht XR viele neue Möglichkeiten:
Neue Geschäftsmodelle
XR ermöglicht die Entwicklung ganz neuer Geschäftsmodelle. Zum einen natürlich für Unternehmen, die sich auf die Entwicklung solcher XR Technologien und Anwendungen spezialisieren. Dieser Markt befindet sich aktuell im starken Wachstum. Nahezu täglich kommen neue Unternehmen hinzu, auch in München.
Zum anderen gehören hierzu auch Anwendungen, die Erlöse ermöglichen und somit auch eine Art Geschäftsmodell sind. Pokémon Go ist ein bekanntes Beispiel, das man als eigenständiges „AR-Geschäftsmodell“ betrachten kann. Zwar ist das Spiel kostenfrei, aber es werden Inhalte durch so genannte “In-App Käufe” generiert. Im Bereich VR beobachten wir seit einiger Zeit Startups, die VR Lösungen zur Entspannung oder für Trainingszwecke anbieten.

Ein typisches Cardboard mit eingesetztem Smartphone zu Trainingszwecken, Quelle: VRdirect, www.vrdirect.com
Effizientere Arbeitsweisen und Abläufe
XR Anwendungen können dazu genutzt werden, um vorhandene Aufgaben effektiver und effizienter durchzuführen. Die Technologien sind in der Regel nicht dazu gedacht, menschliche Arbeit zu ersetzen. Vielmehr sollen die neuen Realitäten Menschen dabei unterstützen, ihre Arbeit besser (schnell, sicher, kostengünstig und fehlerfrei) durchzuführen. Die Anwendungsmöglichkeiten sind breit gefächert und umfassen Training, Personalmanagement, Medizin, Wartung, Produktion und Logistik.

Ein Servicetechniker nutzt Augmented Reality, Quelle: RE’FLEKT, www.re-flekt.com
Neue Möglichkeiten im Marketing
Dass AR Marketing neue Möglichkeiten für die Interaktion mit Produkten und Dienstleistungen bietet, haben Unternehmen, Städte und NGOs bereits erkannt. Durch AR Zusatzleistungen können sie sich differenzieren, ihre Bekanntheit steigern, Konsumenten inspirieren und Kaufentscheidungsprozesse unterstützen. Und es funktioniert: In einer aktuellen Studie zeigen wir beispielsweise, dass die Nutzung von inspirierendem AR Content zu signifikanten Verbesserung der Markenbewertung führt.

Auch die diesjährige Bundesgartenschau nutzt AR und lässt Besucher das Gelände spielerisch erkunden mit der AR-App “impact.karl”, Quelle: SevenD, www.sevend.de
Was können wir in Zukunft von den Extended Realities erwarten?
Die Marktprognosen für XR sind sehr optimistisch, allerdings wurden bisherige Vorhersagen noch nicht erreicht. Gründe hierfür sind unterschiedlich. Bei AR liegt es wohl daran, dass entsprechende Brillen noch sehr teuer sind. In Bezug auf Aspekte wie Akkulaufzeit, Sichtfeld und Gewicht sind sie technisch noch nicht ausgereift und gelten auch nicht als besonders modisch. Zudem existieren nur wenige ausgereifte Apps.
Anders sieht es bei VR aus. Hier sind viele Geräte zwar ausgereift und oft weitaus günstiger als AR-Brillen. Dennoch fehlt vielen Menschen die Erfahrung damit. Sie überschätzen die Risiken, insbesondere auf ihre Gesundheit, und unterschätzen den Nutzen. Zudem nehmen viele Menschen VR primär als Gimmick war und möchten nur ungerne komplett von der Realität abgeschottet sein. Vor allem nicht über einen längeren Zeitraum und unter Beobachtung anderer Menschen.
In naher Zukunft wird XR allerdings unseren Alltag deutlich verändern. Schenkt man den Prognosen glauben, so werden AR-Brillen schon bald ein Massenmedium darstellen. Die Art und Weise wie wir kommunizieren, interagieren und alltägliche Probleme lösen, wird sich maßgeblich verändern.
Auch viele Dinge, die wir aktuell als physischen Gegenstand besitzen oder nutzen, werden wir vielleicht in Zukunft durch virtuelle Objekte ersetzen. Diskussionen, ob beispielsweise eine Wanduhr schön ist oder nicht, können schon bald der Vergangenheit angehören. Jeder Mensch kann die Uhr, die ihm am besten gefällt, virtuell an einer für ihn geeigneten Stelle platzieren.
Dazu benötigen wir allerdings detailgetreue Abbildungen der Realität. In anderen Worten: AR Technologien müssen alles um uns herum erfassen und verarbeiten. Eingriffe in die Privatsphäre sind nur eine der kritisch diskutierten Themen dieser Entwicklung. Umso wichtiger ist es, sich frühzeitig mit diesen Technologien auseinanderzusetzen.
Die Gastautoren
Prof. Dr. Philipp A. Rauschnabel ist seit 2018 Professor für Digitales Marketing und Medieninnovation an der Universität der Bundeswehr München (Fakultät für Betriebswirtschaft). Katrin Brunner ist dort wissenschaftliche Mitarbeiterin und promoviert zu XR. Die Forschungsarbeiten der Professur umfassen verhaltenswissenschaftliche und managementrelevante Fragestellungen aus dem Bereich XR. Der Lehrstuhl kooperiert mit zahlreichen Unternehmen und Hochschulen. In Kürze werden auch auf dem Blog www.xrealitylab.com (Seite im Aufbau) spannende Erkenntnisse zu XR vorgestellt.
Literaturempfehlung: Rauschnabel, Philipp A., Reto Felix, and Chris Hinsch: “Augmented reality marketing: How mobile AR-apps can improve brands through inspiration.” Journal of Retailing and Consumer Services, Volume 49 (2019): Seiten 43 bis 53.
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